Geschichte Woche 2
Nach Lukas 2,36-38
Während ich noch über die Erlebnisse mit dem Simeon nachdachte, drehten sich Maria und Josef um, denn es mussten ja noch die Tauben geopfert werden, die sie mitgebracht hatten. Ich grübelte und grübelte. So sehr, dass ich die Frau, die auf uns zu kam, erst bemerkte, als sie direkt vor uns stand. Graues Haar lugte unter dem roten Tuch hervor, dass ihren Kopf bedeckte. Die Falten auf dem Gesicht verstärkten sich, als sie uns freundlich anlächelte und ihre braunen Augen strahlten wie die von Simeon, als er Jesus erblickte. Wie konnte das denn sein? Woher wussten sie, wer da vor ihnen stand? Gut, Simeon hatte gesagt, dass es ihn in den Tempel getrieben hatte, also musste er es wohl gespürt haben. Ob es bei dieser Frau auch so war? Ich schaute gespannt auf die Frau, was sie wohl sagen würde.
„Ein süßes Kind habt ihr da. Darf ich einmal genauer schauen?“
Maria nickte und nahm das Tuch ein wenig zur Seite, sodass Jesu Gesicht ein wenig mehr zu sehen war. Mensch, Mensch, Mensch, ich muss schon sagen, Jesus war echt beliebt.
Wusste diese Frau etwa auch, wer hier vor ihr stand? Woher wussten sie das alles? Jeder wollte Jesus sehen und jeder freute sich bei seinem Anblick. Und jeder, der ihn sah, war hinterher glücklicher als je zuvor. Was war das nur mit Jesus? War es die Tatsache, dass er Gottes Sohn war?
„Ich lebe hier schon seit einiger Zeit, müsst ihr wissen“, gab die Frau nun preis. „Mein Name ist Hanna und ich diene dem Herrn hier im Tempel. So lange habe ich nun schon von dem verheißenen Retter geredet. Viele Menschen habe ich erreicht, aber das übertrifft alle meine Hoffnungen.“
Hanna deutete auf das kleine Baby in Marias Armen und neigte verzückt ihren Kopf zur Seite.
„So ein niedlicher kleiner Kerl. Ist er nicht ein wunderbares Geschenk?“
Maria sah die Frau mit großen Augen an und nickte.
„Ja, das ist er. Wir können selbst noch kaum glauben, dass er hier bei uns ist.“
„Das glaube ich Ihnen“, lächelte Hanna ihr zu und legte eine Hand auf Marias Arm. „Ich bin nun schon 84 Jahre alt und schon seit langer Zeit Witwe. Sieben Jahre war ich verheiratet, als mein Mann starb. In der ganzen Zeit, in der ich lebe, ist mir noch kein so wundervolles Baby unter die Augen gekommen wie dieses hier. Und glaubt mir, ich habe schon so viele hier gesehen.“
Mein Blick wanderte zu Jesus, der friedlich und zufrieden mit seinen wachen, kleinen Augen durch die Gegend schaute. Wenn ich es recht betrachtete, dann hatte diese ältere Frau recht. Jesus war wirklich ein besonderes Baby und das schien er mit seinem ganzen Wesen auch auszustrahlen. Klar, er machte genauso in die Windel, dass man sich am liebsten eine Nasenklammer zur Hilfe wünschte und er weinte auch ziemlich ohrenbetäubend, wenn er Hunger hatte. Aber trotz allem, sein ganzer Körper schien zu sagen: Seht her, ich bin der, der euch verheißen worden ist.
„Ihr lieben Leute“, rief Hanna in diesem Moment so laut, dass ich vor Schreck beinahe aus Josefs Manteltasche gefallen wäre. Mit wild zappelnden Beinen krallte ich mich am oberen Rand fest, nahm all meine Kraft zusammen und zog mich wieder in die Tasche hinein. Puh, gerade noch mal Glück gehabt. Aber hey, was machte denn die Frau? Wieso rief sie so laut herum?
„Ihr, die ihr auf den Messias wartet, den der Herr schon vor so vielen Jahren versprochen hat: Seht, er ist da. Er ist endlich auf der Welt, er wird uns erlösen.“
Hanna streckte jubelnd ihre Arme in die Luft und rief mit vor Freude strahlenden Augen weiter:
„Gepriesen sei der Herr, der unser Rufen erhört hat und seine Versprechen wahr macht. Ehre dir, dem Schöpfer aller Dinge.“
Ich wurde allmählich kleiner in der Manteltasche. Irgendwie war es mir ein wenig peinlich, dass diese Frau hier so laut herum rief. Wieso machte sie nur so einen Aufruhr? Natürlich, sie durfte sich freuen darüber, dass Jesus geboren war. Das war ja auch was besonders tolles. Aber musste sie sich denn so laut freuen? Die Menschen um uns herum sahen auf die Frau, die da juchzend stand und unbeirrt weiter redete:
„Ja, glaubt es nur, der Messias ist da, er ist da. Macht eure Augen auf, verschließt nicht eure Herzen. Glaubt mir, es ist so gekommen, wie es Gott uns zugesagt hat.“
Ein paar Frauen steckten ihre Köpfe zusammen und tuschelten leise über das Gebaren der Frau neben uns. Wieder andere gingen kopfschüttelnd an uns vorbei, so als wollten sie sagen: Die Frau ist verrückt geworden. Und manche bekamen so gar nichts mit, was um sie herum geschah. Kaum einer blieb stehen, um zu hören oder zu prüfen, ob Hanna die Wahrheit sagte. Aber diese ließ sich nicht beirren. Kurz lächelte sie Josef und Maria zu, strich Jesus behutsam über den Kopf und wandte sich dann wieder den Menschen im Tempel zu, um ihnen die Botschaft von Jesu Ankunft zu erzählen.
Ich muss schon sagen, die Frau hatte vielleicht Mumm. Aber was mich noch mehr erstaunte, war die Reaktion der Menschen, welche die Botschaft hörten. Warum schienen sie nicht zu glauben, was Hanna sagte? Sie mussten doch nur genau hinsehen und zuhören, dann wüssten sie, dass Hanna recht hatte. Stattdessen liefen sie einfach weiter oder redeten schlecht über Hanna.
Gedankenverloren bekam ich kaum mit, wie sich Maria und Josef auf den Weg zum Opferaltar machten, um die zwei Turteltauben als Opfer für den Herrn zu bringen. Das ganze Geschehen ließ mich einfach nicht los. Wieso war auf der einen Seite Unverständnis und auf der anderen Seite unbändige Freude?